„Wir sind nicht frei, solange nicht jede frei ist."
Liebe Freundinnen und Freunde,
Ich kann mich an meine erste konkrete Konfrontation mit dem Feminismus ganz gut erinnern. Ich war neun und meine Kinderärztin hatte meinen Eltern gerade geraten, mir die Mandeln entfernen zu lassen, „weil man es halt so macht.“ Mein Vater hatte dazu eine andere Meinung. „Meine Tochter ist ja ganz gesund und soll die Entscheidung selbstständig treffen; es betrifft letztendlich ihren Körper.“
Heute, nach fast 40 Jahren Erfahrung als Frau in dieser Gesellschaft, möchte ich euch drei Sachen aus dieser persönlichen Geschichte mitgeben.
Erstens: Kleine, simple Sätze können zwar sehr mächtig sein, allein reichen sie aber nicht aus. Denn wir Frauen können immer noch nicht selbstständig über unsere Körper entscheiden. Solange hier in Deutschland §218 noch in Kraft ist, bestimmt ein 150-Jahre altes Gesetz über unsere Körper. Solange der Gender-Pay-Gap nicht einfach eine schlechte Erinnerung aus der Vergangenheit ist, wir für den Großteil der Sorgearbeit zuständig und vier von fünf Frauen von Altersarmut gefährdet sind, sind wir noch nicht gleichberechtigt. Es macht mich wütend, dass die Bedeutung des 8. März als feministischer Kampftag in keinster Weise überholt ist. Dabei möchte ich die erreichten Meilensteine nicht kleinreden. Wir haben als Gesellschaft eine Menge erkämpft. Aber wir sind doch auch nicht so weit, wie unsere Verfassung es mit dem Artikel 3 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ meint.
Zweitens: Wir Frauen brauchen Mitstreiter. Ein Problem, das gesamtgesellschaftlich ist, kann nicht von der Hälfte der Gesellschaft allein gelöst werden. Änderungen anstoßen funktioniert nur gemeinsam. Jede Frau kann von blöden Kommentaren erzählen, wenn wir in banalen alltäglichen Situationen den Mund aufmachen. Es braucht Mut, diese Anfeindungen aushalten zu können. Es kostet unfassbar viel Energie, sich immer die Frage zu stellen: „Sage ich jetzt wieder was oder lasse ich es einfach?“ Ja, Feminismus braucht Ausdauer und Courage. Gleichberechtigung im Alltag entsteht durch Vorbilder, Erziehung und Miteinander. Deswegen kann es nicht nur an uns liegen, einfach weiter mutig, laut und ausdauernd genug zu sein. Wenn wir es nicht immer hinbekommen, haben wir die Gleichberechtigung dann nicht verdient? Es ist an uns allen, und zwar allen zusammen, weiter mutig, laut, ausdauernd und füreinander da zu sein. Sich dem Patriarchat entgegenzustellen hat kein Geschlecht.
Drittens: „Es wird halt so gemacht.“ Ist kein Satz, mit dem wir uns je zufriedengeben sollten. Widerstand bedeutet, sich bewusst die Frage zu stellen, in welchem Land wir leben wollen. Heute, zwei Wochen nach der Bundestagswahl, wissen wir ganz genau, dass der gesunkene Frauenanteil im Deutschen Bundestag eine Bedeutung für die politische Repräsentanz haben wird. Wenn wir am 08. März auf die Straßen gehen, setzen wir mit unserem Protest ein Zeichen für unsere Regierung: wir schauen ganz genau hin, wie ihr es mit den Frauenrechten und der Gleichberechtigung meint. Wir werden weiter mutig, laut und ausdauernd sein, denn wir haben einen langen Atem und wissen, was es zu verlieren gibt.
Immer, wenn ich am 08. März protestiere, machen sich unterschiedliche Gefühle in mir breit. Einerseits fühle ich mich den Menschen um mich herum verbunden. Zusammensein, dazugehören, das Richtige zu tun, all das macht mir Mut. Andererseits muss ich immer an die Frauen weltweit denken, die an diesem Tag nicht ohne Weiteres protestieren dürfen. An die Frauen in Russland, die am 08.03.2022 verhaftet wurden, weil sie sich für die Ukraine eingesetzt haben. An die Frauen in der Türkei, die trotz Demonstrationsverbots sich am 08.03.2023 versammelten. Später setzte die Polizei Pfefferspray gegen die Demonstrantinnen ein. An die Frauen in Ghana, die am 03.März gegen nichts Geringeres als das Hexerei-Gesetz protestieren. Oder an die Frauen in Afghanistan, deren Rechte vor laufenden Kameras geraubt werden. Wären Frauenrechte eine Weltkarte, gäbe es da nur wenige Länder, die fortgeschritten sind.
Ich fühle mich diesen Frauen verpflichtet.
„Wir sind nicht frei, solange nicht jede frei ist."
Wir sind stärker, wenn wir zusammenhalten, und am stärksten sind wir gemeinsam. In diesem Sinne, wir sehen uns im Alltag und bei der Kundgebung am 08.März!
Mit feministischen Grüßen,
Eure Desislava
Beisitzerin im Kreisvorstand